Athen (ots) – Je länger die Debatte um die Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln – allen voran Moria auf Lesbos – weitergeht, desto länger müssen tausende Kinder dort unter schrecklichen Bedingungen ausharren. Wie schlimm es in den Camps zugeht, weiß Popi Gkliva. Sie ist die Leiterin eines SOS-Nothilfe-Projekts für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos und beschreibt anlässlich des Weltflüchtlingstag am 20. Juni, wie es den Kindern geht und was sie brauchen.
Sie arbeiten seit einigen Jahren in den Flüchtlingslagern in Griechenland. Beschreiben Sie bitte Ihre Eindrücke.
Popi Gkliva: Worte können nicht beschreiben, was ich hier alles mit ansehen musste. Kleine Kinder, die in einem provisorischen Zelt leben müssen, das im Schlamm versinkt. Es herrschen hier schlimmste hygienische Bedingungen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Kinder und Jugendliche im Europa des 21. Jahrhunderts keine gesunde Ernährung erhalten, krank sind, ohne einen Arzt aufsuchen zu können, und leichte Opfer für Kriminelle sind.
Wie gehen Sie mit den Kindern um?
Ich versuche einfach, für sie da zu sein. Aber wie hilfst du einer Siebenjährigen dabei, die Tatsache zu ertragen, dass sie ihre Mutter eventuell nie wiedersehen wird? Oder was antwortest du, wenn ein Flüchtlingskind dich abends fragt, ob du jetzt auch in so einem Container schlafen gehst, wie es selbst? Wie erklärst du wissbegierigen Kindern, dass sie nicht zur Schule gehen können? Diese Machtlosigkeit ist kaum zu ertragen.
Moria wird also zu Recht als „Hölle auf Erden“ bezeichnet?
Moria ist menschenunwürdig und vor allem kinderunwürdig. Aber es geht nicht darum, dass die Medien mit Extrem-Wörtern um sich werfen, sondern darum, dass sich etwas ändert. Aber für mich sieht es so aus, als ob die Gesellschaft die Zustände in den Lagern sowie die Schicksale der Kinder und Familien dort zwar bedauert, aber als unvermeidbar hinnimmt. Es darf nicht sein, dass ihre Realität im Camp zur Normalität der Kinder wird.
Was muss passieren?
Wir müssen die Kinder dort rausholen. Es sind Kinder! Ein Flüchtlingscamp ist einfach nicht der richtige Ort für ein Kind. Sie haben ein Recht auf Fürsorge und Schutz und darauf, Kind sein zu können. Wir riskieren, eine Generation zu verlieren, wenn wir jetzt nicht handeln. Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Betreuung, Bildung und den Schutz der Kinder zu gewährleisten.
Weltweit sind 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Hälfte ist unter 18 Jahre alt. Was brauchen Flüchtlingskinder am dringendsten?
Neben Nahrung, Medizin und Schutz brauchen diese jungen Menschen eine Chance im Leben. Wir müssen uns vor Augen führen, wie sich die schrecklichen Lebensbedingungen auf jedes einzelne Kind langfristig auswirken werden, wenn wir ihnen nicht helfen. Diese Kinder haben in der Regel ohnehin schon sehr viel Grausames vor und auf ihrer Flucht erleben müssen. Doch deshalb sind sie keine hoffnungslosen Fälle! Mit Traumatherapie, Schulbildung und liebevoller Fürsorge können wir den Kindern einen Neustart ermöglichen.
Wie helfen die SOS-Kinderdörfer vor Ort?
Es gibt vier SOS-Kinderdörfer in Griechenland sowie mehrere Nothilfe- und Familienhilfe-Programme. Seit Dezember 2015 kümmern sich Mitarbeiter der SOS-Kinderdörfer um Flüchtlingskinder und -Familien, unter anderem auf der Insel Lesbos. Der Fokus liegt auf unbegleiteten Minderjährigen. Bisher konnte über 10.600 Kindern und 920 Eltern geholfen werden. Zum Beispiel mit Unterkünften, psychosozialer und rechtlicher Unterstützung, Bildungsangeboten oder sportlichen Aktivitäten. Auf Lesbos gibt es auch einen Kindergarten sowie Bildung für Schulkinder. So kann SOS monatlich rund 850 Menschen allein auf Lesbos helfen.
Wie beeinflusst die Coronakrise die Situation im Camp?
Die Corona-Maßnahmen führen dazu, dass noch mehr Menschen Hilfe brauchen, während aber wegen der notwendigen Distanzierung weniger aufgenommen werden können. Die Menschen, und ganz besonders Kinder und Jugendliche, sind ohnehin in einer sehr schwierigen psychischen Verfassung. Verzweiflung, Depressionen und Angst sind weit verbreitet. Wenn unsere Mitarbeiter nun nicht mehr täglich kommen, bedeutet das eine zusätzliche Verunsicherung. Keinen direkten, zwischenmenschlichen Zugang zu haben, stellt uns vor eine Herausforderung, die wir aber mit neuen, angepassten Abläufen meistern. So gibt es beispielsweise Online-Bildungs-Plattformen, Therapiesitzungen per Telefon und die Verteilung von Nahrung sowie Hygienekits. Wir leisten auch Corona-Aufklärung, damit die Menschen sich schützen können.
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